ARTENREICH

Foto: Raumansicht, Naturhistorisches Museum Mainz

Raumansicht, Naturhistorisches Museum Mainz

Foto: ARTENREICH, Detail

ARTENREICH, Detail

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Foto: Raumansicht, Naturhistorisches Museum Mainz

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Foto: Saal für Heimische Tiere, Naturhistorisches Museum Mainz

Saal für Heimische Tiere, Naturhistorisches Museum Mainz

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Über das Projekt

Der Film zur Ausstellung

Der Teaser zur Ausstellung

Blick auf einen verlorengegangenen Aspekt des Forschens und des Sammelns

Viele naturkundliche Sammlungen gehen auf einstige Raritätenkabinette oder Wunderkammern zurück. Zu Zeiten in denen Reisen in ferne Länder und Bildung nur wenigen Privilegierten vergönnt war, bestand das Anliegen solcher Sammlungen vor allem in der Zurschaustellung und dem Bestaunen von seltenen und außergewöhnlichen Objekten. Gesammelt wurde alles was diesem Ziel entsprach, unabhängig davon ob es sich um Naturobjekte, Artefakte, Kunstgegenstände oder exotische Gebrauchsgegenstände handelte. Heute sind naturkundliche Sammlungen eine wichtige Datengrundlage der geo- und biowissenschaftlichen Forschung. Sie sind physische Datenbanken der Natur, die in einer Zeit des massiven Artenrückgangs immer bedeutender werden. Anhand geologisch-paläontologischer Sammlungsobjekte können Entwicklungen in der Erdgeschichte rekonstruiert werden, die uns Informationen über Prozesse geben, mit denen wir zukünftige Tendenzen, wie Klimawandel und Folgen des Artensterbens extrapolieren können. Zudem geben Naturobjekte aus historischer Zeit Auskunft über Populationsdynamik und Verbreitung von Tier und Pflanzenarten, die wichtig sind, um Vorhersagen für die Zukunft zu treffen.

Naturkundliche Museen halten mit ihren Sammlungen eine weltweit verfügbare Infrastruktur für Generationen von Forscherinnen und Forschern vor. Gerade diese Verfügbarkeit stellt in jedem Museum eine große Herausforderung dar. Um die unzähligen Objekte erschließbar zu machen müssen sie dokumentiert, katalogisiert und systematisiert werden. Dies erfordert Zeit und einem Menge Expertise. Heute sollen digitale Datenbanken Forschungssammlungen weltweit sichtbar und zugänglich machen. Eine Sammlung, die nicht allgemein sichtbar ist, existiert für die weltweite Forschung quasi nicht. Allerdings ist die Menge an nicht-digitalisierten Altbeständen gerade in naturkundlichen Sammlungen häufig so umfangreich, dass selbst die großen und personell gut ausgestatteten Museen nur langsam mit der Aufnahme und Eingabe der Daten vorankommen.

Neben der Verfügbarkeit der Sammlung ist natürlich die Erhaltung der Objekte ein wesentlicher Aspekt. Die hierzu notwendige konservatorische Bearbeitung und die kontinuierliche Kontrolle und Pflege nimmt sehr viel Zeit in Anspruch und erfordert spezielle Kenntnisse sowie eine adäquate technische Ausstattung. Dabei benötigen die verschiedenen Naturobjekte unterschiedliche Konservierungsverfahren und jeweils entsprechende Lagerungsbedingungen. Die Bandbreite ist hierbei groß und reicht von Gesteinen und Mineralien über Fossilien bis hin zu zoologischen Präparaten und Herbarmaterial. In den Archiven reihen sich die Regale, vollgefüllt mit Gefäßen und Sammlungskästen, platzsparend untergebracht, gut sortiert und beschriftet. Ein Anblick, der immer wieder fasziniert. In Einrichtungen, die über eine entsprechende Infrastruktur verfügen, werden heute sogar DNA- und RNA-Proben tiefgekühlt aufbewahrt. Es zeigt sich dabei, dass die Dokumentation von Biodiversität bis in die genetische Vielfalt reicht.

Das Naturhistorische Museum Mainz verfügt zusammen mit der Landessammlung Rheinland-Pfalz über 1,5 Millionen Sammlungsobjekte. Nur ein sehr geringer Teil davon, weniger als ein Prozent, sind Schaustücke die ausgestellt werden. Es wird dabei deutlich, dass der öffentliche Teil eines naturkundlichen Museums gegenüber der Forschungssammlung nur die Spitze des Eisbergs darstellt und der gesellschaftliche Auftrag über das Ausstellen von Objekten und das Vermitteln naturwissenschaftlicher Inhalte weit hinausgeht. Inzwischen versucht man diesen in der Öffentlichkeit wenig wahrgenommenen Aspekt auch in den Ausstellungen deutlich zu machen. In der Museologie fallen daher die Begriffe »Public Understanding of Research« und »Public Understanding of Collections«.

Blickt man zurück auf die Ursprünge heutiger Forschungssammlungen, wird deutlich, dass sich die Zielsetzungen und die gesellschaftlichen Aufgaben seitdem sehr verändert haben. Hinter jeder Sammlung stehen heute wissenschaftliche Fragestellungen und ein verschriftlichtes Sammlungskonzept das gezieltes Sammeln nach festgelegten Vorgaben bestimmt und regelt. In der Ausstellung ARTENREICH lenkt die Künstlerin Anja Schindler mit ihren Arbeiten den Blick dagegen bewusst auf einen heute meist verlorengegangenen Aspekt des Forschens und des Sammelns, nämlich auf das Bedürfnis, unabhängig von der fachlichen Disziplin, die Welt als Ganzes mit all ihren Facetten zu begreifen. Mit ihren himmelblauen Kuriositätenkammern aus Natürlichem und Unnatürlichem, aus botanischen Fundstücken und aus Artefakten entfalten sich in der Gegenüberstellung mit den Sammlungs- und Ausstellungsobjekten des Mainzer Naturhistorischen Museums unerwartete, den Blickwinkel erweiternde Perspektiven. Insbesondere der in die Jahre gekommene und nicht mehr zeitgemäße Saal der Heimischen Tiere erhielt durch die künstlerischen Interventionen von Anja Schindler eine neue Wertigkeit, die auch dem Personal des Museums nicht verborgen blieb. Anfangs skeptisch beäugt, wurde das Projekt mit Ideen und praktischen Vorschlägen unterstützt. Schließlich verbrachten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihre Mittagspause in dem Saal, um über die Kunstaktion zu diskutieren. Die so entstandene Dynamik macht den prozesshaften und performativen Aspekt der Ausstellung deutlich, der einen Bestandteil des Werkes der Künstlerin Anja Schindler ausmacht.

Dr. Bernd Herkner, Direktor Naturhistorischs Museum Mainz

Wenn Museen zu magischen Orten werden – ARTENREICH, Kurioses, Skurriles, Kostbares

Anja Schindler, 1963 in Bremen geboren und in Deutschland und Italien als freischaffende Künstlerin interdisziplinär tätig, ist Sammlerin, Forscherin und Entdeckerin aus Leidenschaft und liebt es zu reisen. Ihre Kunst besitzt die Magie des Geheimnisvollen, begründet eine singuläre Position mit hohem Wiedererkennungswert. Auf ihre Werke reagiert der Betrachter verblüfft, neugierig, berührt. Sie haben die Kraft, neue Blickwinkel zu erschließen, um unserer Welt auf ungewohnte Weise zu begegnen, uns über sie zu wundern und Verbindendes in ihr zu sehen. Seit vielen Jahren arbeitet die Künstlerin an einer Camera delle meraviglie (Wunderkammer) der besonderen Art, eine wissenschaftlich-künstlerische Sammlung eindrucksvoller, skurriler, amüsanter oder bemerkenswerter Dinge, die sie kontinuierlich und schlüssig erweitert. Sie trägt diese Dinge zusammen mit der gleichen ungeheuren Passion wie sich Sammler seit der Renaissance die Welt erschlossen, indem sie auf Reisen Neues entdeckten(1).

Die Künstlerin setzt unterschiedliche Konservierungs- und Präsentationsmethoden ein, über die sie sich im Vorfeld profunde wissenschaftlicheKenntnisse angeeignet hat. Ihre Kunst baut auf intensiven inhaltlichen Recherchen auf, zum Beispiel über die Bestände der Museumssammlungen, zu denen sie ihre Arbeiten inhaltlich und formal in Bezug setzt. Anja Schindlers erweiterter Kunstbegriff schlägt eine Brücke von der Kunst zur Wissenschaft, verweist auf beide als offene Systeme und hinterfragt Wertigkeitskriterien und Mechanismen unserer subjektiven Wahrnehmung. Im Spannungsfeld des Unbekannten im Vertrauten und des Vertrauten im Fremden spricht sie unsere Sehnsüchte nach dem Entdecken von Neuem, nach dem Blick über den Tellerrand an. Vergleichbar mit den seit dem 16. Jahrhundert aufkommenden Kuriositätenkammern (gefüllt mit Sammlungen von Schätzen wie Krokodilen oder Korallen) reflektiert ihre Kunst das Ordnungssystem des Universums (2).

Im Dialog mit der Sammlung des Naturhistorischen Museums in Mainz integriert Anja Schindler ihre Kunst in den musealen Kontext und verwandelt das Museum in einen magischen Ort. Sie legt uns Ihre in Glasgefäße mit Öl konservierten Raritäten offen (»Transparenz des Geheimnisvollen «(3). Ihre künstlerischen Tier – und Pflanzenpräparate, die in Schauvitrinen einsortiert, auf Podesten erhoben oder in Szenarien mitten unter den Museums-Tierpräparaten eingestreut sind, nehmen wir als ebenbürtig zu den musealen Exponaten wahr. Anja Schindlers konzeptuelles Vorgehen legt die Frage nahe, was denn ihre Kunst eigentlich von den musealen Ausstellungsstücken unterscheidet. Jedoch markiert sie ihre Objekte durch ihr typisches Cyanblau deutlich als Kunst. Die Künstlerin bearbeitet diejenigen Fundstücke, denen sie die Fähigkeit zuschreibt, ihre Außergewöhnlichkeit unter dem Einfluss der gestaltenden Kraft noch intensiver zu entfalten. Als cyanblaue Kunstwerke bündeln sie unsere Aufmerksamkeit auf filigranste Strukturen, auf immer zarter werdende Verästelungen, wie sie bei Farnen, Bäumen, Korallen zu bewundern sind. Sie zoomen uns an wirbelnde Spiralformen und feinporige, terrassenartig aufgebaute Schwämme heran.

Während das Naturhistorische Museum in Mainz das Erleben unterschiedlicher Welten ermöglicht, die die Region über 400 Millionen Jahre beherbergte und dazu einlädt, sich zwischen Quaggas und Wasserbüffeln zu bewegen oder das vor 23 Millionen Jahren lebende »Schreckenstier« Hauerelefant Deinotherium Giganteum am Ur-Rhein zu bestaunen, lädt Anja Schindler uns zum Entdecken Ihrer Kuriositätensammlung ein. ARTENREICH ist eine Hommage an den Arten-Reichtum unserer Welt, die wir nur fragmentarisch erfassen können. Das Museum in Mainz bietet ein wunderbares Beispiel dafür, dass Wissenschaft sowie Sammlungen, auf die sie aufbaut, fortlaufende Prozesse und offene Systeme sind: Überreste (Kieferbruchstücke) des »Schreckenstiers« wurden kombiniert, das Aussehen rekonstruiert und die Rekonstruktion durch weitere Funde revidiert (in diesem Fall von anfangs nach oben zeigenden zu nach unten zeigenden Stoßzähnen).

Der künstlerische Prozess besteht für Anja Schindler in der bewussten Verortung: Sie arrangiert ihre Installationen in einen besonderen historischen Raum und auf den Etagen der terrassenartig angelegten Durchgangsflure, mit Blick auf den offenen Mittelraum, in das etagenübergreifend in voller Höhe das beeindruckende Urwesen »Schreckenstier« aufgestellt ist. Das Konzept ihrer Kunst als »Bestandteil des Museums auf Zeit« beinhaltet museale Schlüsselcharaktere: »Wenn wir ein Museum besuchen, treten wirin ein künstliches Universum mit einer besonderen Ästhetik und eigenen Ordnungskriterien ein«(4). Im Dialog wird ein unmittelbarer, sinnlicher Zugang zu Museumsgegenständen und Kunst eröffnet. Anja Schindlers besonderes Potential liegt darin »mit Neugier und Befremden«(5) zu arbeiten und Impulse zu geben, damit eigene Entdeckungen gemacht werden und man sich seiner Reaktionen auf Räume und Dinge gewahr werden kann. »Diese Raumerfahrung bestimmt die Wirkung der Werke – sie werden als unverzichtbare historische Zeugen gesehen – und die Wirkung der Werke verändert die Raumwahrnehmung«(6).

Für ARTENREICH entstehen ganz neue Kreationen, unter anderem drei Glasgefäße auf Podesten, die kleinen Schatzkammern gleichen: COLLEGAMENTO I bis III. Lichtdurchflutet, mysteriös-schimmernd, locken uns in Öl eingelegte, für die Ewigkeit versiegelte Papierarbeiten, changierend in unterschiedlichen Hellbraunnuancen der Blätter, bis in Berührungsnähe heran. Auch in anderen Glasgefäßen der Ausstellung zeigen Lupeneffekte beim Durchblicken der gewölbten Oberflächen und Glaswände die Zeichnungen und Skripte in immer wieder sich verändernden Verzerrungen.

Wir entdecken Zeichnungen mit Spiral-, Zellen- oder Samenformen und Skizzen embryonaler Lebensstadien. Auf schwarze, tänzelnd-schwingenden Linien reduziert, schauen wir auf überraschend komplexe, wiederkehrende »Ur-Formen der Natur«. Anja Schindler erstellt ihre zarten Zeichnungen direkt vor den Originalen in den Sammlungen. Sie entstehen im Fluss, fangen innerhalb von Sekunden den Zustand kleinster Bewegungen ein oder geben präzise und detailliert klare Strukturen wieder.

Zeichnungen der Künstlerin sind hier mit alten Manuskripten arrangiert: In Italien wurde sie auf Flohmärkten auf Handschriften aufmerksam, eine der ältesten Formen der Wissensweitergabe, persönliche Seelenfenster, die von Entstehungsgeschichten zeugen. Die Schriften sind nur schwer lesbar und fragmentarisch zu erkennen, oft auch in Spiegelschrift zu sehen: So wirken sie geheimnisvoller, als müsse man deren Inhalt wie eine alte Sprache dechiffrieren. Den Fokus legt Anja Schindler nicht auf den Inhalt der Schrift, sondern auf das Prozedere: Die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden und Historisches in unsere Welt zu bringen ist ein Faszinosum. Herabhängende Fäden, bewusst sichtbare Spuren der Papier-Vernähungen, stehen symbolisch für die allesverbindende Sprache (»Collegamento« bedeutet »Verbindung, Anschluss«). Die Künstlerin stellt die Frage nach weltgeschichtlichem und naturwissenschaftlichem Erbe an nachkommende Generationen. Was hat Beständigkeit? Was ist erhaltungswürdig?

Genährt wird die wissenschaftliche Forschung von der Analyse eines Untersuchungsgegenstandes, den man vor allem eins zu eins bildlich zuverlässig beglaubigen kann, auch in Abgrenzung zu der weitgehend von »Zauberei und Hellseherei gekennzeichneten Vorstellung der antiken und mittelalterlichen Wissenschaft (7)«, die ihre Wissenslücken durch Phantasie überbrückte. Das Sammeln von bislang nicht Bekanntem, von erkenntniserweiternden Dingen ist die Basis jeder Museumssammlung, und die Grundlage jedes Forschens und jeder Artensystematik. Die bildliche Fixierung auf empirischem Wege, »durch eigene Beobachtung erschlossene[r] Erkenntniss «(8) war für die Übermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse grundlegend (ein Beispiel hierfür ist das Botanische Buch von Otto Brunfels). In einer Schauvitrine präsentiert, vereint Anja Schindler nun verschiedene Zeitschienen und Räume, Historisches mit dem Aktuellen, mit den Betrachtern im hier und heute. Die Funktion von Kunst und der Wert eines Originals wird in diesem Kontext implizit zum Thema. Welche Bedeutung kommt der bildlichen Fixierung vergänglicher Vorlagen, der Verbreitung des Wissens durch Reproduktionstechniken wie Radierungen in der Kunstgeschichte zu? Welches Weltbild vermitteln Präparate aus Flora und Fauna aus vergangenen Zeiten, die in der Lage sind, »Originale« für immer zu konservieren? Kunst kann unsere Welt ausschnitthaft unter die Lupe nehmen. Museen, Wissenschaft und Forschung können ebenfalls nur ein bruchstückhaftes Bild der Welt rekonstruieren.

Neugierig blickt man im Flurtrakt des Mainzer Museums auf cyanblaue Holzschauschränke, gefüllt mit akribisch einsortierten Glasgefäßen. Man trifft auf spinnenartig feinbeinige, schmale Tische, auf denen erhöhte, gefüllte Gläser mit blauer Versiegelung thronen. Die Ausstellungsmöbel selbst, die ebenfalls aus Fundstücken bestehen sind Bestandteile der Kunst: Da wird ein Eckstück eines alten Lebensmittelladenregals umgebaut und ausgediente Schultischfüße werden umfunktioniert. Anja Schindler liebt und findet »alte Gebrauchsmöbel«, sieht das Potenzial in ihnen, dekontextualisiert und isoliert sie, färbt sie cyanblau ein und gibt ihnen in wenigen Schritten eine neue Wertigkeit und Funktion. Oft ist die Ästhetik der äußere Anlass für das genauere Hinsehen und führt zur Auswahl als Präparat oder als Accessoire. Eine der Vitrinen in Mainz wird von einem feingliedrigen Reisigzweig in Blau ergänzt und von einem Globus bekrönt, der den Zusammenhang weltweit symbolisiert. Die Verzahnung des Weltgefüges verkörpert Anja Schindler aber auch mit der allgegenwärtigen Farbe Blau. Die kunsthistorisch bedeutungsschwangere Farbe kommt in Flora und Fauna nur selten vor, schlägt einen weiten Bogen vom Meer, vom Wasser, zum Himmel.

Warum aber sammeln wir eigentlich? Wird der Mensch von der Illusion genährt, dass er im übertragenen Sinne etwas für die Ewigkeit hinüberretten könnte bzw. dass er etwas »über die eigene Vergänglichkeit hinaus bewahrt wissen will«(9)? Vielleicht leitet den Sammler die Notwendigkeit größere Zusammenhänge zu sehen, den Überblick über das große Ganze zu bekommen, die Welt zu verstehen. »Dahinter stehen die Neugier und der Wunsch, den nächsten Käfer in das bestehende System einzuordnen und an der richtigen Stelle einzufügen, die Natur und ihre Systematik zu begreifen« (10). Generieren Sammler wie Anja Schindler mit ihrem künstlerisch veränderten »Sammelgut nicht auch Geschichte und Geschichten mit oftmals sogar historischem Aspekt«(11)? Wie wir etwas wahrnehmen, welchen Wert wir ihm beimessen, wird durch unsere Gedanken darüber beeinflusst. »Es ist eine faszinierende Eigenschaft des Menschen, dass ein simples Fundstück einen enormen Wert haben kann – allein wegen unserer Vorstellung davon, woher es stammt, welche Geschichte es hat«(12), unserem Glauben daran, es sei wertvoll. Anja Schindler liebt mehrdeutige Wortspiele, nutzt wissenschaftlich anmutende, italienische Begriffe für ihre Titel: »Credenza« bezeichnet eine Anrichte, wo Dinge präsentiert werden und bedeutet zugleich Glaube.

Nicht allein der Besitz der Sammlung befriedigt, sondern auf einer emotionalen Ebene »das Sammeln selbst, also das Auffinden, Entdecken und Einordnen von Objekten, welche die Sammlung vervollständigen und die Historie immer gründlicher abrunden«(13). Die Installation ISOLA erinnert die Künstlerin an die abenteuerlichen Verkaufswagen auf den Märkten in Luxor oder Kairo. ISOLA besteht aus einer überladenen, transportablen Konstruktion mit Schubladen und Ablageflächen, vielfach aufklapp- und behängbar. Sie lässt unsere Augen über allerlei Mitgebrachtes schweifen, auf sorgfältig abgepackte Substanzen, undefinierbare Waren, die eher der Alchemie zugeordnet scheinen. Der »Wander-Laden« ist eine Assemblage aus alten Gebrauchsgegenständen von ihrem Dachboden, Ingredienzien ihrer persönlichen Geschichte: Teile einer alten Nähmaschine, einem Element eines Spinnrades aus der Strickwarenfabrik in der sie lebt und arbeitet. Von ihrer Reise brachte sie Saharasand mit, in Glasgefäßen als beliebtes Zeugnis erinnerter Erlebnisse konserviert. An den Spinnrädern hängen getrocknete Hülsenfrüchte, die dekorativ zum Kauf locken.

Demut vor alten Hochkulturen, Demut vor der Schönheit und Vielfalt der Natur: Die Künstlerin zelebriert sie in ihrer Kunstwelt, sensibilisiert mit. ihr für die gemeinsame Formensprachen in der Natur, in der Menschheitsgeschichte. Ihre wissenschaftlichen Recherchen zum Beispiel anlässlich der Ausstellung »Der Tod ist Himmelblau« über den Bestand des Ägyptischen Museums in Bonn (Gräber und Totenkulte) inspiriert die Künstlerin dazu und eine künstlerische Miniatur-Grabstätte (eine Vitrine mit Aufblick auf einen Schrein und sorgfältig angeordneten Grabbeigaben) zu bauen.

Gotische Sakralarchitektur und dunkle Decken bestimmt die Raumerfahrung im älteren Trakt des Mainzer Museums, der demnächst vollständig renoviert wird. Hier schaut der Besucher auf bizarre, in die Jahre gekommene Szenarien mit Tierpräparaten auf nachgestellten Lebensräumen zu Themen wie »Feld und Wiese« oder »Feuchtgebiete«. Dank der Interventionen mit blauen Schöpfungen von Anja Schindler, die man schmunzelnd entdeckt, entstehen irritierende Brüche, erwacht das Museum mit frischem Blick wieder zum Leben.

Es gibt viel zu sehen: Aufmerksam auf den Hinterpfoten stehend scheint ein Hase an einem blauen Fremdling zu schnuppern: Eine hochgewachsene, einzelne, eingefärbte Hortensie aus dem Garten der Künstlerin. Tausende blaue Erbsen bedecken wie kostbare Perlen den Boden einer abgesteckten Szenerie, auf denen Maulwurf, Igel, Hase und Maus optisch herausstechen. Verblüffend formprächtige, angehäufte blaue Kieferzapfen in allen Größen, vor einem Eichhörnchen aufgebaut, das ein Exemplar bereits in den Pfoten hält, macht diesen zu einem pfiffigen Sammler. Daneben scheinen sich miteinander tollende Füchse um die vor ihnen liegende blaue Beute zu raufen. Am Saalende schreiten Frischlinge neugierig in Richtung des blauen Unbekannten und spiegeln das Verhalten der Museumsbesucher, der Künstlerin und das der Sammlern wider: Auf etwas aufmerksam geworden werden sie getrieben von dem Reiz, Neues zu entdecken und es zu erforschen. Der Blick auf den bislang als immer schon dagewesenen und kaum noch wahrgenommenen Bestand der Museumssammlung ändert sich im Diskurs mit den Objekten Anja Schindlers gänzlich.

Prominent behauptet sich die komplexe Installation MUTTER ERDE vor der Kulisse der vollständig mit Jagdtrophäen behängten Wand. Die Künstlerin experimentiert mit Radierungen in Glasgefäßen, durch die das Licht aus der Vitrine von hinten hindurchstrahlt und damit die Effekte der Verzerrungen und Lupenwirkungen verstärkt. Vernähungen von Papierschriftstücken und Zeichnungen mit sichtlich überstehenden Fäden erinnern jetzt im Zusammenhang mit dem Titel »Mutter Erde« an Nabelschnüre, an Geburt und Lebenszyklen.

Arten- und Formenvielfalt auf unserem Planeten bieten in vielerlei Hinsicht Anlass zum Wundern. Dieser Reichtum birgt eine fesselnde Diskrepanz zwischen Vertrautem und Unbekanntem. Anja Schindlers Kunst spielt auf das noch Unentdeckte in vermeintlich Bekanntem an. Wer achtet schon auf die Attraktivität der filigranen Formen des Ginsters? Am Schauschrank von CREDENZA II hängt ein Ginsterzweig, in einheitlichem Blau getaucht. Nichts lenkt mehr von der Form ab. Von seiner Struktur sind wir genauso angetan wie von der Feingliedrigkeit des exotischen Schwammkürbis Luffa (im tropischen Asien, Afrika, Amerika und Lateinamerika verbreitet). Das »faserige Innere der (reifen) Frucht wird als Massage- und Badeschwamm in verschiedenen Ausführungen verwendet«(14). Was uns im Alltag begegnet wird nach Anja Schindlers künstlerischer Bearbeitung mit reduzierten Mitteln und deren musealer Präsentation zu einem unentbehrlich wirkenden Gut voller Geheimnisse. Das Prinzip eines Museums wiederholt sich im Kleinen wie im Großen: In jedem Glasgefäß der Künstlerin befindet sich ein ganzes Universum.

Wir können unsere Welt nur fragmentarisch erfahren, doch hat sie viele Gesichter und jeder von uns kann ihr Respekt, Neugier und Verwunderung entgegenbringen. Anja Schindlers Kunst erschließt einen kritisch-humorvollen Blick auf die unendlichen Perspektiven, die auf unsere Welt möglich sind und auf die Erkenntnis, dass Kunst und Wissenschaft, als offene Systeme, lediglich den Versuch wagen können, das Verbindende in unserem Leben in Augenschein zu nehmen. Anja Schindlers poetisch-wunderschönes Universum ist magisch Blau, gibt Impulse zum Genießen, zum Schmunzeln, zum Staunen, zum Hinterfragen.

1–2 S. h.: Weltkunst, über das Buch »Cabinet of Curiosities« (Wunderkammern) von Massimo Listri, Taschenverlag, 2020, Hrsg. Giulia Carciotto
3 Titel des Artikels von Chris Steinbrecher im Katalog »Schindler«:»Anja Schindlers Transparenz des Geheimnisvollen«.
4–6 S. h.: Erfahrungen vor / mit Originalen im Museum, in: Methodik und Didaktik. Kunst und Unterricht, Nr. 447 / 448, online, Friedrich-Verlag, 1997–2021
7–8 Norbert Schneider. Museen, Wunderkammern und Naturalienkabinette. In: Stillleben, Taschenverlag, 1999, S. 157.
9–13 S. h.: Jan van Der Lip, posted in Autographensammler Philosophie. 2. September 2013
14 https://de.wikipedia.org/wiki/luffa

Dr. Marta Cencillo Ramírez

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